Panel 01. Sys­te­ma­ti­sierend: Plat­form Re­search be­yond the Hype Cir­cle – Zur Ak­tua­li­tät von Be­grif­fen & De­bat­ten

Chair: Dr. Maximilian Waldmann (FernUniversität in Hagen) & Jun.-Prof. Dr. Christian Leineweber (OvGU Magedburg)

Panelbeschreibung:
„Begriffe ermöglichen Zugänge zu Phänomenen, sind performativ aber ebenso an der Konstitution von Phänomenen beteiligt. Dabei schwingen in spezifischen ökonomischen, sozialen und politischen Kontext immer auch spezifische Begriffsimplikationen mit. Das Panel zielt darauf ab, aktuelle Begriffe wie z.B. ‚Sicherheit‘, ‚Vertrauen‘ und ‚Transparenz‘. im Plattformkontext vertiefend zu diskutieren und populäre Begriffe der Plattformforschung einer kritischen Relektüre unterziehen.”

Maximilian Waldmann ist Postdoc im Lehrgebiet Bildung und Differenz an der FernUniversität in Hagen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Macht-, Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnisse in der postdigitalen Kultur aus medienpädagogischen Perspektiven.

Dr. Christian Leineweber (OvGU Magedburg) arbeitet zu medienpädagogischer Bildungstheorie, zur Quantifizierung in pädagogischen Handlungsfeldern sowie zu bildungswissenschaftlicher Medienforschung und den Themen Bildung und Zeit.

Eine kurze politische Ökonomie des plattformbasierten Internets

Strukturierung – Regulierung – Kommodifizierung

Prof. Dr. Ulrich Dolata (Universität Stuttgart)

Abstract:
„Das heutige Internet wird getragen von zahllosen kommerziell betriebenen Plattformen sehr unterschiedlicher Art: von Such-, Networking-, Messaging-, Medien-, Handels-, Vermittlungs-, Crowdsourcing- oder Crowdfunding-Plattformen, deren kleinster gemeinsamer Nenner ist, dass sie sich als digitale, datenbasierte und algorithmisch strukturierende soziotechnische Infrastrukturen charakterisieren lassen. Mein Vortrag knüpft in zweierlei Hinsicht daran an. Zum einen arbeitet er die übergreifende Strukturierung oder Architektur von Internetplattformen heraus, die sich aus (1) Unternehmen als organisierenden Kernen und (2) den von ihnen betriebenen Plattformen als mehr oder minder weitläufig ausgelegten sozialen Handlungsräumen fassen lässt, die sich in privatem Besitz befinden. Zum anderen geht der Vortrag der Frage nach, wie Plattformen durch deren Betreiber reguliert und kontrolliert werden. Im Zentrum stehen dabei zwei wesentliche Regelungsbereiche: zum einen die privatwirtschaftliche Organisierung und Regulierung von Märkten (wie z.B. des Amazon Marketplace), auf denen die Plattformbetreiber selbst die grundlegenden Marktprozesse koordinieren und die Wettbewerbsbedingungen festlegen, und zum anderen die technisch vermittelte Vorstrukturierung und Kuratierung sozialer Verhältnisse und sozialen Verhaltens, durch die insbesondere die führenden Social-Media Plattformen zum Teil sehr weitreichende soziale Ordnungs- und Regulierungsfunktionen übernehmen und die institutionellen Grundlagen für das schaffen, was ich als privatwirtschaftlich verfasste Gesellschaftlichkeit im Web bezeichne.”

Ulrich Dolata, Dr. rer. pol. habil., seit 2009 Professor für Organisations- und Innovationssoziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart. Zuvor unter anderem Research Affiliate und Senior Scientist am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln sowie Wissenschaftler am artec-Forschungszentrum Nachhaltigkeit der Universität Bremen und am Hamburger Institut für Sozialforschung. Arbeitsschwerpunkte: Technik- und Innovationsforschung, organisationaler und institutioneller Wandel, politische Ökonomie des Internets.

Risikopolitik in der Regulierung sozialer Medien

Rachel Griffin (Sciences Po Paris)

Abstract:
„Viele der wichtigsten sozialen Probleme, die der DSA ins Visier nimmt – z.B. Desinformation, digitale Gewalt, Diskriminierung und andere Menschenrechtsfragen – werden vor allem durch die Absätze 34-35 reguliert. Diese Vorschriften etablieren Risikobewertungs- und -minderungspflichten für die größten Plattformen (‚VLOPs‘). Politiker:innen und zivilgesellschaftliche Organisationen haben große Hoffnungen in dieses System investiert. Sie sehen darin ein Mittel, Rechenschaft zu stärken und die Governance machtvoller Plattformunternehmen mit öffentlichen Interessen – und nicht nur Profiten – in Einklang zu bringen.
Ausgangspunkt für diesen Artikel ist ein Verständnis von Risiken als sozial konstruiert und politisch strittig. Das Konzept des Risikos ist nur eine mögliche Weise, Schaden, Entscheidungsfindung und Unsicherheit zu konzipieren, und zwar eine, die vor allem probabilistische Rechnungsprozesse und technische Fachkenntnisse prioritisiert. Dennoch stellt jeder Schritt in Risikoeinschätzungs- und -minderungsprozessen Entscheidungen dar, die zutiefst politisch, ideologisch und verteilungsrelevant sind – insbesondere in einem solchen Bereich der Regulierung, in dem das ‚öffentliche Interesse‘ sehr umstritten ist. Es folgt daraus, dass das Risikomanagementsystem im DSA zu einem wichtigen Feld für politische Konflikte darüber wird, wie groβe Plattformen betrieben werden sollen. 
Auf dieser Basis analysiert der Artikel die normativen und politischen Folgen der Entscheidung, umstrittene Probleme im Bereich der Plattformregulierung als Risiken zu konzipieren, sowie der spezifischen Ausprägung des Risikomanagementssystems im DSA. Er schlägt vor, dass zentrale Eigenschaften dieses Systems – nämlich die vage und abstrakte Definition von Risiken, der Mangel detaillierter Compliance- und Übersichtstandards, sowie die Delegation der gesetzlichen Auslegung an Plattformen und private Auditoren – die Gefahr einer Vereinnahmung durch die kommerziellen Interessen der VLOPs schaffen. Gleichzeitig wird es schon anhand ihrer bisher initiierten Durchsetzungsverfahren und Untersuchungen klar, dass die Europäische Kommission auch plant, das Verständnis und die Priorisierung von Risiken nach eigenen Vorstellungen zu beeinflussen. Der DSA schafft also die Möglichkeit, dass höchstpolitische Fragen der Governance digitaler Medien neben den Interessen der Plattformkonzernen auch immer stärker durch die Interessen von Regierungsinstitutionen geprägt werden – mit ambivalenten Implikationen für Menschenrechte, Gleichheit, und Freiheit des öffentlichen Diskurses.”

Rachel Griffin ist Doktorandin und Dozentin der Jurafakultät an der Sciences Po Paris. Ihre Forschung konzentriert sich auf die europäische Regulierung groβer Online-Medien-Plattformen und auf deren Bezug auf soziale Ungleichheiten und Diskriminierung. Zudem ist sie Co-Leiterin (neben Prof. Dr. Beatriz Botero Arcila) des neuen Forschungsprojekts Delimiting Systemic Risks in Social Media Governance: Putting the DSA Into Practice.

Plattformisierung von KI – zum Beispiel ChatGPT

Prof. Dr. Jan Distelmeyer (FH Potsdam & Universität Potsdam)

Abstract:
„Die öffentliche Debatte (und der Hype) um generative ‚Künstliche Intelligenz‘ bringt seit Ende 2022 Versprechungen und Ängste in besonderer Weise zusammen. So zahlreich die dabei adressierten Aspekte und Fragen sind, scheinen sie doch zumeist durch eine Gemeinsamkeit verbunden, die als Zukunftsorientierung beschrieben werden kann. Dabei geht es weniger um Entstehungsprozesse und Bedingungen des Phänomens KI als vielmehr um seine Auswirkungen: überraschende, ermutigende oder beängstigende Effekte stehen im Zentrum einer Aufmerksamkeit, die sich daraufhin um weitere Folgen kümmert oder diese einzuschränken sucht (wie z.B. durch den AI Act der Europäischen Union). Debatten zu ‚the end of work‘, die Sorge vor dem ‚Ende der Wahrheit‘, Hoffnungen zum KI-Einsatz in der Medizin und das ‚Statement on AI Risk‘ stehen dafür.
Bei dieser prognostischen Perspektive, für die es gute Gründe gibt und die auf merkwürdige Weise mit der zugrundeliegenden Technik des Machine Learning korrespondiert, gerät leicht aus dem Blick, was gegenwärtig (und in der jüngsten Vergangenheit) an Bedingungen, Prozessen und Infrastrukturen nötig und in der Entwicklung begriffen sind. Die (u.a. mit Anne Helmond, David B. Nieborg, Thomas Poell und José van Dijck zu stellende) Frage der Plattformisierung von KI hilft dabei, einige dieser Bedingungen, Prozesse und Infrastrukturen in den Blick zu nehmen.
In diesem Sinne nimmt der Vortrag das Beispiel ChatGPT zum Anlass, insbesondere Interfaces und Arbeitsverhältnisse in den Fokus zu rücken. Ausgehend von den Erkenntnissen der Software Studies und Medienwissenschaften zu diversen Formen und Ebenen von Interfaces (von APIs bis zu GUIs) irritieren User-Interfaces von ChatGPT das Bild einer unzugänglichen ‚Black Box‘ und geben vielmehr Anlass, weiterführende Fragen zu stellen.”

Jan Distelmeyer ist Professor für Mediengeschichte und -theorie im Kooperationsstudiengang Europäische Medienwissenschaft der Fachhochschule Potsdam und Universität Potsdam. Aktuelle Forschungsschwerpunkte liegen im Verhältnis von Medialität und Digitalität mit einem besonderen Interesse an Interfaces sowie Fragen der Automatisierung und Autonomie. Zu aktuellen Veröffentlichungen gehören Critique of Digitality (Übers. von Kritik der Digitalität) und Video Conferencing: Infrastructures, Practices, Aesthetics (Hg. mit Axel Volmar und Olga Moskatova).