Chair: Dr. Thorben Mämecke (FernUniversität in Hagen)
Panelbeschreibung:
„Dark Design Patterns, Doomscrolls, Rage farming, User Engagement, Retention Messages, Infinity Reels, Intermittent Reinforcement – der psychopolitische Werkzeugkasten von Social-Media-Plattformen ist vielfältig, wenn es darum geht, Nutzer:innen zu bestimmten Handlungen zu bewegen. Der Fokus dieses Panels soll auf Apps und IoT-Environments liegen, die vergleichbare soziotechnische Steuerungs- und Kontrolltechniken auf soziale Praxen außerhalb der Social Media übertragen. Beispiele können plattformisierete Workplace Sourveillance-, Mobilitätsmanagement-, New-Learning-, eHealth-Systeme oder Augmented-Gaming-Apps sein.”
Dr. Thorben Mämecke ist wissenschaftlicher Geschäftsführer des FSP digitale_kultur. Er forscht zu den Schwerpunkten Subjektivierung und Gouvernementalität im Kontext von Technologiediskursen sowie Dataveillance und data driven social Engineering. Er hat am Graduiertenkolleg „Automatismen” zum Thema Selbstverdatung und partizipative Technologieentwicklung promoviert (Das quantifizierte Selbst – Zur Genealogie des Self-Trackings). Zuvor arbeitete er als Dozent im Fach Mediensoziologie an der Universität Bielefeld sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Numerische Inklusion” des DFG SPP „Mediatisierte Welten”.
Social Reverse Engineering – Ein kritisch-explorativer Beitrag zur „Plattformisierung des Lernens”
Jun.-Prof. Dr. Christian Leineweber (OvGU Magdeburg) & Dr. Maximilian Waldmann (FernUniversität in Hagen)
Abstract:
„Reverse Engineering bezeichnet in technischen Zusammenhängen die Dekonstruktion und Analyse von Technologien, um deren Beschaffenheit und Funktion zu erschließen (vgl. Friesinger & Herwig: The Art of Reverse). In unserem Vortrag verwenden wir den Terminus in einer abgewandelten Bedeutung, die sich auf die Relation zwischen Technologie und Gesellschaft bezieht, um ihre Bedeutung und Wirkung für individuelle und kollektive Lernprozesse erschließen zu können.
Einerseits wollen wir zeigen, inwieweit angesichts der Intransparenz von Algorithmen das Verhältnis zwischen Technik und Sozialität neu geordnet wird. Ausgehend von einem Verständnis von Algorithmen als epistemische Akteure (vgl. Gramelsberger: Philosophie des Digitalen zur Einführung) lautet unsere These, dass algorithmische Wissensordnungen die Beziehungen sozialer Akteur:innen untereinander und ihre Position in sozialen Gefügen nach technisch bestimmten Kriterien neu ordnen. Sozial herausfordernd ist daran die epistemische Opazität der Systeme: Ihre Funktionslogiken sind für die Allgemeinheit genauso wenig ersichtlich, wie ihre sozialdiskriminatorischen Effekte auf das Zusammenleben als unvorhersehbar gelten (Airoldi: Machine Habitus).
Dem Problem der epistemischen Opazität der Systeme wollen wir andererseits mit der Argumentation begegnen, dass die die Effekte der Implementierung von Maschinenlernsystemen auf das Soziale greifbar sind und kritisch diskutiert werden können, indem rekonstruktiv Rückschlüsse aus bisherigen, vergleichbaren Anwendungsszenarien gezogen werden (etwa im Hinblick auf Überwachung, Fremdsteuerung, automatisierte Ungleichheiten), normativ ethische Kriterien für eine verantwortungsvolle soziale Algorithmen-Praxis entwickelt werden (z. B. durch Equity-Audits) und prospektiv andere politische Zukünfte algorithmisierter Wirklichkeiten imaginiert werden (fabulatorische, dekonstruierende und „algoaktivistische“ Auseinandersetzungen).
Diese drei Aspekte des sozialen reverse engineering wollen wir anhand praktischer Beispiele aus dem Bereich der Plattformisierung pädagogischer Prozesse diskutieren – darunter die Vorhersage von Hochschullernerfolgen durch so genannte Learning Analytics und die Gamifizierung des Lernens durch eine Plattform für schulisches Lernen.”
Dr. Maximilian Waldmann ist Postdoc im Lehrgebiet Bildung und Differenz an der FernUniversität in Hagen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Macht-, Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnisse in der postdigitalen Kultur aus medienpädagogischen Perspektiven.
Jun.-Prof. Dr. Christian Leineweber (OvGU Magedburg) arbeitet zu medienpädagogischer Bildungstheorie, zur Quantifizierung in pädagogischen Handlungsfeldern sowie zu bildungswissenschaftlicher Medienforschung und den Themen Bildung und Zeit.
Plattformisierung der Datenverarbeitung? Datenintegrations- und -analyseplattformen als Subtyp digitaler Plattformen
Dr. Simon Egbert (Universität Bielefeld)
Abstract:
„Social-Media-Plattformen wie Facebook, App-Plattformen wie Google Play, Gig-Economy-Plattformen wie Airbnb, Uber oder Delivery Hero sind mittlerweile alltägliche Begleiter für viele Menschen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass bereits zahlreiche Studien zu diesen digitalen Plattformen existieren, in denen sie insbesondere hinsichtlich ihrer zugrundeliegenden Politik sowie ihres zunehmenden Einflusses auf die Gesellschaft diskutiert wurden. Die bestehende Literatur neigt jedoch dazu, sich stark auf die bekannten, insb. internetbasierten, digitalen Plattformen zu konzentrieren, weshalb andere Arten weitgehend ignoriert werden. Dazu gehört insbesondere eine Art von Plattform, die als Datenintegrations- und ‑analyseplattform bezeichnet werden kann und die sich in den letzten Jahren vor allem durch die Softwarelösungen des US-Unternehmens Palantir Technologies verbreitet hat. Diese Art von Plattform werde ich in meinem Vortrag mit Bezug auf die mehrdimensionale Plattform-Definition von Srnicek (2016) als digitale Plattform konzeptualisieren und deren wesentlichen Eigenschaften im Sinne eines eigenen Subtyps von digitaler Plattform herausstellen. Um die Besonderheit dieses neuen Plattformtyps zu betonen, stelle ich Palantir Technologies als ein Fallbeispiel vor und hebe dabei die strukturellen Merkmale und technischen Schlüsselmerkmale ihrer Plattformen hervor. Dies wird schlussendlich zeigen, dass Datenintegrations- und Analysedienste auch als Plattformen verstanden werden sollten, da sie wie andere Plattformen als veränderbare digitale Infrastrukturen dienen, die verschiedene Parteien zusammenbringen und datenabhängige Interaktion ermöglichen.”
Dr. Simon Egbert, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bielefeld im ERC-Projekt „The Future of Prediction”. Zudem Projektleitung Teilprojekt Bodycams, Forschungsverbund „Visions of Policing”. Zuvor Tätigkeiten an der TU Berlin, im Graduiertenkolleg Innovationsgesellschaft heute, sowie an den Universitäten Hamburg und Bremen. Promotion 2018 mit einer Arbeit zum Thema Diskurs und Materialität an der Universität Hamburg. Forschungsinteressen: Prädiktive Algorithmen, Plattformen, Polizei, Soziologie des Testens, Soziotechnische Interaktion.
Dialektik der Plattform-Arbeit: Eine kritische Perspektive auf das Spannungsfeld von Kontrolle und Autonomie
Jasmin Schreyer (FAU Erlangen-Nürnberg)
Abstract:
„Die allgemeinen Trends zur Flexibilisierung, Finanzialisierung, Deregulierung und Digitalisierung der Arbeit spiegeln sich in der plattformbasierten Gig Economy besonders zugespitzt wider. Im Mittelpunkt dieses Wandels stehen digitale Plattformen, die Märkte privatisieren, sich selbst als Intermediäre – weniger als Organisationen, die für Beschäftigte zuständig sind – definieren, wodurch die technischen Infrastrukturen immer mehr zur Voraussetzung für die Wertschöpfung, und ihre Logik zu gesellschaftlichen Normen werden. Als Intermediär vernachlässigen sie, selbst bei abhängigen Beschäftigten, die traditionellen Rechte und Pflichten dieser. Asymmetrische Informations- und Wissensbestände verschärfen die strukturelle Schieflage der industriellen Beziehungen weiter: Plattformunternehmen negieren die Tarifautonomie, sie sind weder Mitglied in klassischen Arbeitgeberverbänden, noch scheint sich auf der betrieblichen Ebene reguläre Tarifverhandlungen abzuzeichnen, da sie sich selbst nicht als arbeitgebende Organisation verstehen und eine Zustimmung zu Tarifverhandlungen einer Regulierung gleich käme.
Nichtsdestotrotz evoziert die engmaschige algorithmische Arbeitssteuerung und das atomisierte Arbeitshandeln ein Spannungsfeld, in dem eine hohe Protesthäufigkeit in der digitalen Plattformökonomie, insbesondere im Logistiksektor, zu beobachten ist. Der Vortrag beleuchtet anhand einer Fallstudie die Selbstorganisation von angestellten Plattformarbeitern in der Essenzustellung in Deutschland und zeigt auf, wie trotz der Herausforderungen wie Atomisierung, Hetereogenität und Sprachbarrieren eine Organisierung erfolgt ist. Die These des Vortrags rekurriert auf ein rigides algorithmisches Management, dass dazu beitragen kann, dass sich aufgrund der fehlenden Kommunikation, neue – externe –Kommmunikationsräume bilden, die dann wiederum eine Interessenartikulation und eine Selbstorganisation begünstigen. Trotz beschränkter rechtlicher Schutzmöglichkeiten haben basisorganisierte Initiativen gemeinsam mit traditionellen Gewerkschaften Verbesserungen der Arbeitsbedingungen erreicht und das Ungleichgewicht zumindest teilweise zu Gunsten der Arbeitskräfte verändert.”
Schreyer, Jasmin, M.A., ist Soziologin und seit 2020 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FAU Erlangen-Nürnberg und am Lehrstuhl für Soziologie mit dem Schwerpunkt Technik, Arbeit, Gesellschaft angestellt. Dort ist sie neben ihrer Lehrtätigkeit im Koordinationsprojekt des DFG SPP 2267: „Digitalisierung der Arbeitswelten” tätig. Während sich das Koordinationsteam ausgehend von den empirischen Projekten mit der konzeptionell-theoretischen Frage auseinandersetzt, ob die gegenwärtigen Digitalisierungstrends bereits eine „Transformation” in Gang gesetzt haben, untersucht sie in ihrer Promotion qualitativ-rekonstruierend wie Gig Worker:innen in der lokalen Essenauslieferung im Spannungsfeld von Autonomie, Kontrolle und Selbstorganisation kollektive Handlungsfähigkeit und Solidarität etablieren.